Ich komme vom Dorf. Etwas über 100 Einwohner, sehr bäuerliche Strukturen. Es gibt eine Regel, die ich dort als Kind früh gelernt habe: „Irgendwer sieht einen immer“. Ob ich Kirschen stibitzt, ein Bonbonpapier in einen Garten geworfen habe, mal ganz dringend irgendwo notpinkeln oder ein ungeliebtes (Wochen altes) Pausenbrot im Gebüsch entsorgen musste – irgendjemand hat es immer gesehen und mich darauf angesprochen oder, viel schlimmer, gleich bei meinen Eltern gepetzt.

Ich habe gelernt, mich damit zu arrangieren und Orte zu finden, die wirklich privat waren und habe diverse Geheimhaltungstechniken entwickelt. Geheimnisse sind wichtig. Weil zwischen Nichts Wissen und Nichts Sagen ein riesiger Unterschied ist. Das ist eine große Erkenntnis, die das Zurechtfinden in der Welt erst ermöglicht. Was Sprache ist, versteht man als Kind erst dann, wenn man Lüge und Geheimnis entdeckt. Sprache schafft Wirklichkeit, Sprache verbirgt Wirklichkeit. Sprache verändert Wirklichkeit.

Sagen, was nicht ist – die Lüge als Ursprung von Geschichten

Ich kann etwas sagen, was nicht ist. Oft gilt das als Lüge, ist aber auch der Ursprung jeder Geschichte (etwas, was momentan nicht ist, aber einmal war oder sein könnte) und jeder Utopie (etwas, was momentan nicht ist, aber sein wird oder eines Tages sein könnte).

Nicht sagen, was ist – das Geheimnis als Ursprung des Selbst

Ich kann etwas, was ist, nicht sagen. Das ist das Wesen von Geheimnissen. Durch Geheimnisse kann ich meine Welt von der Welt anderer unterscheiden. Ich weiß etwas, ich lebe etwas, ich habe ein Welt, die andere nicht haben. Ich bin ich, ich bin anders, ich bin mächtig, ich kann über mein Leben bestimmen.

Privacy als Ursprung sozialer Wesen

Die Entwicklung zu einem sozialen Wesen findet auch in diesem Spannungsfeld zwischen Sagen und Nicht Sagen, Offen Legen und Verbergen statt. Ich lerne einzuschätzen, wann ich offen bin, wann ich andere teilhaben lasse, wann ich sie draußen halte. Ich lerne, wichtig und unwichtig unterscheiden. Geht das in der Entwicklung von Menschen schief, werden sie aufdringlich geschwätzig oder sonderlich und verschwiegen, in schlimmen Fällen z.B. Exhibitionistinnen oder Kleptomanen.

Alexa

Diese Woche startet Amazon in Deutschland den Verkauf der Echo-Box Alexa. Sie ist im Prinzip ein weiter entwickeltes Apple Siri oder Google Now, also eine App, mit der ich sprechen kann und die mir hilft, mein Leben zu organisieren. Ich stelle meine Fragen nicht mehr in einer Suchmaschine, sondern spreche Siri oder Google Now an und erhalten umgehend Antworten. Die App speichert eigenständig alle Daten, die sie für alltagsrelevant hält: Alle meine Online-Bestellungen, meine Termine, DHL-Benachrichtigungen etc. So weiß die App immer mehr über mein Leben und kann mir helfen, meinen Alltag optimal zu organisieren.

Die Echo-Box Alexa ist nun eine sprachgesteuerte Box, die aber nicht nur Fragen beantworten, Notizen speichern und Termine in den Kalender eintragen kann. Sie kann Musik auf Befehl abspielen und kann mit anderen smarten Haushaltsgeräten verlinkt werden. Heizung, Waschmaschine, Fernseher etc. Ist die Box aktiviert (durch die Ansprache „Alexa!“), speichert Amazon das Gesagte als auch die damit verbundenen Informationen auf. Amazon weiß dann, dass ich gerne die 8-Uhr-Nachrichten schaue, erinnert mich an die fertig gewaschene Wäsche in der Waschmaschine und kann mir Vorschläge machen, wenn ich bei Lieferando mein Abendessen bestellen möchte.

Lügen haben keine kurzen Beine, sondern keine

Geheimnisse? Vergiss es! Lügen? Haben ab jetzt gar keine Beine mehr. Amazon, ebenso wie alle anderen Big Data Players, unterscheidet nicht zwischen wichtig und unwichtig, offen oder geheim. Gesammelt werden einfach alle Daten. Weil Datenmassen immer irgendetwas sagen. Und jedes Wissen kann irgendwann dienen, geldwert werden.

Alles nicht so schlimm? Schließlich haben wir ja nichts zu verbergen und außerdem werden die meisten Daten ja nur anonymisiert gespeichert!

Was wird aus den Geschichten und den inneren Welten, wenn Alexa, die alles weiß, Lügen und Geheimnisse aus den Wohnungen verbannt?

 

 

 

Leben im digitalen Dorf
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