Von der Learntec in Karlsruhe – der erste Tag
Guenther Oettinger ist per riesiger Video-Leinwand im Trendforum der Messehalle zugeschaltet. Obwohl inzwischen Kommissar für Digitales und obwohl einst Ministerpräsident Baden Württembergs, wo die Learntec stattfindet – ich bin befremdet. Das Befremden setzt sich beim nachfolgenden Redner, Jürgen Kaube, Mitherausgeber und Feuilleton-Chef der FAZ, nahtlos fort. Bin ich hier, um die modernen Einsprengsel im betulich-humanistischen Bildungsansatz von mehr oder weniger älteren Herren honorieren zu können?
„Lesen. Schreiben. Rechnen. Was ist das?“ heißt der Vortrag von Kaube. Verheißungsvoll. Und genau genommen ist Kaube auch ein wirklich kluger Mann, der nur offensichtlich viel besser lesen, schreiben, rechnen und denken kann als reden. So schweife ich ab, twittere und poste während der etwas umständlichen Schleifen seines Vortrags und fühle mich durchaus ertappt, als er darauf hinweist, dass die maximale Aufmerksamkeitsspanne bei Lernvideos und Vorträgen heute sechs Minuten beträgt. Au weia, so lange habe ich nicht durchgehalten.
Generation Rechenschieber
Aber ich steige mindestens alle sechs Minuten kurz wieder ein, um zu hören, ob Kaube in seinen Ausführungen bereits im 21. Jahrhundert angekommen ist. Ja, ist er. Und erzählt, was seine Tochter in der vierten Klasse lernt. Ich schweife wieder ab. Mit halbem Ohr höre ich, dass er über mehrsprachige Gedichtanalysen spricht, Bildungsziele differenziert und – völlig zurecht – beschreibt, wie der Rechenschieber, der unserer Generation (in den mittleren 60er Jahren geboren) das Rechnen erleichtern sollte, eines der Werkzeuge ist, das so aufwendig zu bedienen ist, dass der Erleichterungseffekt gen Null tendiert.
Soziale Grammatik
Dabei ist Zeit genug, diesen herzallerliebsten Facebook-Post meiner FB-Freundin A. zu liken und zu kommentieren:
Kind (6) zu mir (alterslos): „Ich bin eine Dame, Mister Besserwisserin!“
Ich (sichtlich gealtert): Erstens spricht eine Dame nicht mit vollem Mund, und zweitens heißt „Mister“ „Herr“. Du hast mich gerade „Herr Besserwisserin genannt.“
Kind (Null Sekunden Anlauf): „Misterin Besserwisserin!!“Kommentar: Grandios! Sucht das Kind noch eine Onkelin?
So geht lernen auch. In einer sozialen Situation, im Konflikt, im Dialog. Grammatik. Regeltransfer – der schief gehen kann. Kaube springt jetzt vom Rechenschieber zum Taschenrechner. Was ist rechnen? Kopfrechnen oder den Lösungsprozess einer Aufgabe verstehen? Zeit für eine kurze Recherche über Jürgen Kaube. Ich stoße schnell auf seinen beim zu Klampen!-Verlag im letzten Jahr erschienenen Titel Im Reformhaus – Zur Krise des Bildungssystems.
Wikipedia ist …
Ich kehre mit meiner Aufmerksamkeit zurück zum Vortrag, genau richtig um den Gedanken zu hören, den einen, der mein Hirn ins Schwingen bringt:
Vielleicht ist die Wikipedia einfach ein kultureller Taschenrechner.
Ah, das ist klug! Weil das Fakten-Wissen der Welt immer mehr wird und auch der für ein einzelnes Leben erforderliche Ausschnitt zu groß ist um es sich zu merken, gibt es für kulturelle Fakten die Wikipedia. Nicht alles lernen, sondern vieles einfach nachschlagen – und die Lernenergie eher auf das Verständnis von Entwicklungsprozessen verwenden.
Ich blättere noch kurz in der Leseprobe aus Kaubes Buch. Und stoße auf den Satz, der mir den heutigen Vormittag erklärt:
Bildungsreden haben oft etwas Deprimierendes
Stimmt, Herr Kaube. Macht aber nichts. Kluge Gedanken verzeihen auch mittelmäßige Vortragskunst, q.e.d.. Danke für den kulturellen Taschenrechner. Den nehme ich mit.