Für Shumei

Ich kam nach Taipei um Taiji zu lernen, um selbst Lehrerin zu werden.

Ich sah schon vor mir, wie ich hier immer besser werden würde, wie ich ohne Probleme in den Halbspagat absinke, in einer breiten gehockten Grätsche aufrecht stehe, wie meine Bewegungen immer fließender werden, meine Tritte immer höher gehen und meine Standfestigkeit immer perfekter. Ich wollte die Fächerform,  die Schwertform und vielleicht noch den Langstock beherrschen lernen. Und das alles in meditativer Ruhe. Ich sah mich als halbe Meisterin, mit klarer Ausstrahlung, nicht aus dem Gleichgewicht zu bringen, souverän, beweglich, ästhetisch.

Ich kam in die Taiji-Schule und schon am ersten Tag ereilte mich immer wieder die Korrektur: Dreh deine Hüfte. Ich habe sie gedreht und nicht genug gedreht und schief gedreht und falsch herum gedreht und abgeknickt. So habe ich den ersten Monat damit verbracht meine Hüfte richtig zu drehen.

Im zweiten Monat zwickte mir der Rücken und die Diagnose der Taiji-Lehrerin war: Du stehst nicht richtig. Ich mache ein Hohlkreuz, meine Schultern sind hochgezogen, die Wirbelsäule nicht gerade, ich bin nach hinten gelehnt, das Becken ist nicht entspannt. So habe ich einen Monat lang stehen gelernt.

Im dritten Monat versuchte ich Stehen und Hüfte Drehen zu verbinden – heraus kam die Analyse: Du gehst nicht richtig. Ich wippe nach vorne und hinten, strecke den Hintern nach hinten, gehe nicht auf einer Linie. So habe ich im dritten Monat gehen gelernt.

Nach drei Monaten schaute ich auf meine Füße und Zehen und konnte es kaum fassen: Meine Zehen ließen sich einfach zusammen und auseinander bewegen. Bis dahin hatte ich zu den Menschen gehört, die gerade einmal den großen Zeh nach unten beugen können, die anderen Zehen sind dicht beieinander und bewegen sich eher gar nicht. Und jetzt – sogar der kleine Zeh lässt sich zur Seite strecken.

Wenn ich also nachhause komme und mich jemand fragt: Und was hast du gelernt in Taiwan?, werde ich mit stolz geschwellter Brust, nein, das ist schon wieder falsch. Im Taiji gibt es keine stolz geschwellte Brust, die Wirbelsäule wird aufgerichtet, das Brustbein dabei eher nach innen gezogen. Noch einmal: Wenn mich jemand fragt: Was hast du gelernt in Taiwan?, werde ich in aller Bescheidenheit sagen:

Ich habe gelernt, den kleinen Zeh zu bewegen.

 

The Dragon Explores with its Talons – Die Entdeckung des kleinen Zehs
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